Worthreich erwachte am folgenden Mittag, der für die restliche Bevölkerung (mit Ausnahme von Taugenix und Tunichgut) ein mickerburgerischer Abend wie jeder andere war und hätte um ein Haar bereits, wie geplant, vergessen gehabt, was sich in der vergangenen Nacht zugetragen hatte. wäre ihm nicht zufälligerweise der Umstand, daß er nach Erledigung seiner Notdurft wieder einmal kein Toilettenpapier zur Hand hatte, in die Quere gekommen. Als er nun mit einem Male und vor Schrecken geweitetem Auge auf den Durchschlag des Vertrags stierte, den er am Abend zuvor mit seinem eigenen Blut unterschrieben und soeben zunächst von seiner Brust ge- und daraufhin in zwei Hälften zerrissen hatte, von sich denen die erste bereits auf den Weg in den finsteren Schlund der Sickergrube begeben hatte, während die zweite, noch in Worthreichs Hand verweilend, im Begriff war denselben Weg zu nehmen. Er beschloß nach kurzem Nachdenken, daß es keinen Sinn haben würde an etwas festzuhalten, an das er nicht errinnert werden wollte und ließ damit auch den zweiten Fetzen den ihm vorbestimmten Weg gehen. Kein Vertrag, kein Beweis. So einfach war das.
Auch wenn der Alkohol gute Dienste geleistet hatte, die Ereignisse der vergangenen Nacht irgendwo im Nebel zwischen Traumbildern, die nun Zweifel an ihrer Traumhaftigkeit in Worthreich weckten und Wahnvorstellungen, ín deren Wahnhaftigkeit Worthreich gleichsam ebenso Wirklichkeit wähnte, verschwimmen zu lassen, begann nun eine dunkle Ahnung in ihm aufzusteigen, daß ihn dieses Mal möglicherweise die Wirklichkeit in Wirths Gestalt einer Wirtsgestalt gnadenlos einholen könnte. Glücklicherweise verfügte Worthreich über Mittel und Wege sich über solch absurd paranoide Anflüge von Selbstzweifeln schnell hinwegzuhelfen.
Und weil das Glück dem Narren stets zur Seite steht, war die Wende bereits eingeleitet, die seinem Weg zum Erfolg, zu dem er unweigerlich verdammt war, beschienen war. Während Worthreich noch über einem Ausweg aus seinem Dilemma grübelte, war das Schicksal nämlich bereits schwer damit beschäftigt ihm den Weg zu weisen. Denn kaum hatte Worthreichs, sich noch immer, von den Exzessen der vergangenen Nacht, pelzig anfühlende Zunge mit den ersten Tropfen frisch aufgebrühten Tees angefreundet und begonnen sich vom harten Palatum zu lösen, da klopfte es auch bereits an der Tür. Noch ehe Worthreich auch nur antworten konnte wurde dieselbe auf – und Worthreich von den aufgeregt hereinstürmenden Taugenix und Tunichgut am Hemdskragen aus seinem bequemen Sessel herausgerissen.
Taugenix:
Ich dacht ihr wärt schon ausgeflogen
beseelt vom gestrigen Tatendrang
doch seid ihr nicht mal angezogen
Ihr glaubt wohl Dichter warten lang
Worthreich:
Passt auf, daß ich mich nicht vergesse
Heut‘ kann ich wirklich nichts vertragen
Die Flaschen Wein von letzter Nacht
liegen noch immer schwer im Magen
als hätt‘ der Tod mich angelacht
Also lasst das Rumgestresse!
Taugenix:
So scheint es Eurem Geist entronnen
in der Spelunke hat soeben
Eure Lesung schon begonnen
und Ihr tut hier im Sessel kleben!
Worthreich blickt auf die nicht vorhandene Uhr an seinem Handgelenk und erbleicht
Taugenix:
Wenn ihr euch sputet ganz geschwind
Schafft Ihr vielleicht noch ein paar Zeilen
Doch wie Ihr wißt, die Zeit verrinnt
Drum solltet Ihr Euch doch beeilen!
Worthreich:
Verratet mir, daß ihr nicht spinnt
Ich eile, fliege schon geschwindt
Inspiration ist’s was ich brauche
nun da ich schon kein Kraut mehr rauche
mich zu messen mit dem Meister
des redundanten Überfluss’s
der P. Leon Asmus heißt
der ganze Rest ist doch nur Kleister
den zu aller Welt Verdruss
der (Verleger*) Rumzick in die Bücher scheißt
Tunichgut:
Belügen mich grad meine Ohren?
Fast wähnt ich wirklich Euch im Wahne
So gar kein Kraut? Wie geht denn das?!?
Das klingt mir doch sehr nach ’nem Fass
das ihr hier aufmacht mit ’ner Fahne
wer nicht mehr raucht, hat schon verloren!
Worthreich:
Bei jedem Ding zählt stets das Maß
so scheint’s, wie ich es wohl vergaß
sind die Details in diesem Plane
praktisch noch nicht ganz ausgegoren
Tunichgut:
Nun aber sprichst du wahrhaft klug
denn um dich in den Saal zu trauen
solltest du mit Recht und Fug
vielleicht grad‘ schnell noch einen bauen…
Worthreich:
Eile mit Weile, sagt die Weise
und nimm dir Kraut mit auf die Reise
Dann fährst du sicher auf dem Gleis
denn wie ein jeder zu gut weiß
ist in Künstlerkreisen es doch schick
wenn man nicht gar so pünktlich kommt
das hebt den Ton und regt den Blick
mit Spannung auf des Dichters Spott
Rumzick (aus dem off):
Doch bricht’s manch einem das Genick
sagt erst der Amtsman einmal „Flott!“
Worthreich:
Drum tu ich, was ich nicht sollt‘ doch
– sag‘: Fünf Minuten ham wa‘ noch!
Sehr zu seinem eigenen Verdruß verpasste Worthreich schließlich seine große Chance, dem Meister des Redundantismus, P. Leon Asmus, dessen Werk er verehrte wie kein anderes, die während Tunichguts Bauarbeiten sorgsam zusammengestellte Auswahl aus seinen eigenen Arbeiten zu präsentieren. Denn wie immer, wenn Tunichgut die Worte „…noch schnell einen bauen!“ aussprach, bedeutete dies unweigerlich eine Zeitverzögerung von zumindest einer halben Stunde.
Als sie schließlich die Spelunke „Zum Doppelten Singular“ erreichten, hatte P. Leon Asmus bereits zu lesen begonnen. Seine Worte hallten Worthreich noch im Geiste nach, während er nach dem anschließenden, obligatorischen und obligatorischerweise sehr ausufernden Zechgelage (er trank wieder einmal für drei, wie die zahlreichen Legenden, die die Erinnerung an diese denkwürdige Nacht überliefern einstimmig berichten) zuhause versuchte, sich wieder auf sein eigenes Werk einzustimmen, indem er noch etwas mehr Inspirationskraut rauchte. Diese Substanz wirkte wahre Wunder wenn es darum ging Worthreichs wortreiche Monologe in Zaum zu halten, sie war jedoch bei den konservativen Zirkelliteraten als den klaren Geist benebelnd und degenerierend verschrien. Und sie hatte an diesem Tag die alleinige Schuld daran getragen, daß Worthreich ein wichtiger Termin entglitten war – auch wenn es ihm zumindest gelungen war, seinem Idol zwischen Tür und Angel einige ungeordnete Seiten mit Auszügen aus seiner Dichtkunst in die Aktentasche zu schmuggeln…
Worthreich schwelgte noch immer in der eloquenten Wortgewandtheit dezent akzentuierender Brüche die, versteckt in redundantistisch überhöhten Vers-Zeilen, selbst dem verwöhntesten Ohr des anspruchsvollsten Publikums überkritischstem Zuhörer noch schmeichelten und wünschte sich, er selbst wäre ebenso zu solch subtil differenzierten Wortsätzen, gespickt mit den berüchtigten Doppel-Zwillings-Urteil-Axiomen eines P. Leon Asmus, fähig:
Von der Königsmonarchie
bis hin zur Volksdemokratie
bleibt das Massenindividuum
beständig gleich genauso dumm
stupide und beizeiten pünktlich
zur rechten Zeit distanziert unverbindlich
zwanglos unverhohlen ungeniert
und offenherzig freiheraus
ganz unumwunden unverhüllt
ein frei von Inhalt leeres Vakuum
das doch voll vom Kröpfen zugefüllt
von überflüssig’em Redundantuum
wird residuierend zugemüllt
(Aus: P. Leon Asmus, „Über die Obsoleszenz des veralteten Konzepts terminierter Endlichkeit ohne dauerhaften Fortbestand im perpetuum mobile des sich immerwährend kontinuierlich wiederholenden zyklischen Kreislaufs repetitiver Kumulation als Reflexion ihrer Spiegelung in der unendlichen Ewigkeit der grenzenlosen Wahrheit der richtig echten Realität“, Kapitel V, Absatz XIII, Ed. Rumzick)
Noch immer hatte Worthreich die philosophische Tiefe dieser Sätze nur teilweise erfassen können. Doch P. Leon Asmus hatte noch weitaus mehr drauf, beispielsweise die elegeisch-polemisch wehklagende Schmähschrift von provokativ-herausforderndem Charakter:
Ein großer, gewaltig gigantischer Riese
von sophistischer Weisheit und gelehrter Expertise
versank untergehend in der Krise der Misere
ausweglosen Dilemmas der Malaise
der Bredouille in Bedrängnis von solch‘ Kalamität
dass ihm sich beschwerend querulieren
als letzt‘ ultima ratio blieb
Doch weil er war mit Talenten wohl begabt
und ward gar heilig fromm verehrt
wie sakrosankt vergöttert
ob unbefleckter Inmakularität
letztendlich doch konnt‘ Onans Werk verrichten
intellektuell sich masturbierend geistig selbst befried’gen
ganz manuell von Hand gemacht
(Aus P. Leon Asmus provokativer Kampfschrift „Kurze Shorts: Über die Misere des ausweglosen Dilemmas von höchster Kalamität in der Sackgasse“, Kap. IX, Ed. Rumzick)
Bei der Eloquenz solch hoch elaborierter Verse huschte Worthreich ein wohliger Schauer über den Rücken. Doch P. Leon Asmus beherrschte nicht nur die subtile Kunst der fundamental- grundlegend rezensierenden Kritik an der rationalen Vernunft der Philosophie und der religiösen Dogmen , sondern ebenso die süffisant feinsinnig-amüsante Form des finster prophetisch orakelnden Humors, besser bekannt als „Veralbernder Kassandrismus“, im Stile eines Al Truismus in den Reifejahren:
Die hodenlose Dornenrose
sagt meine Zukunftsprogonose
trägt eine lederlose Lodenhose
und betreibt spontan Osmose
doch reicht es jetzt, genug, genug
hier wird nicht mal der Schlau’ste klug
so bleibt am End‘ der letzte Schluss:
Ihr schuldet mir ’nen Obolus!
(aus P. Leon Asmus: „Ambivalente Auswege aus der Gefangenschaft künstlerischer Freiheit“ [Arbeitstitel des unvollendeten Werkes], Fragment, Sammlung Rumzick)
Mit diesen Worten des großen P. Leon Asmus wohlig in die Arme des Schlafes gleitend schlummerte Worthreich in seinem gemütlichen Polstersessel schließlich ein und hätte dabei fast vergessen, dass er am nächsten Morgen ja schon wieder etwas vorhatte.
Die Worte die er mit letzter Kraft, noch im Halbschlaf auf das Papier kritzelte sollten später einmal unter dem Titel „1-2-3-Reimquälerei: Der Tragödie erster Theil“ als Inbegriff lyrischen Ausdrucks in Bezug auf das dichterische Dilemma in die Literaturgeschichte eingehen. Vorher jedoch mussten sie zunächst das verwöhnte Ohr der Komtesse Arroganzia von Hochnasen zu Hohennasen passieren, welches am vorangegangenen Tage bereits von den verderblichen Eingebungen des ränkereichen Adolf Rumzick* mit Argwohn vergiftet worden war.
Fortsetzung folgt in: „Auf dem Anwesen derer von und zu Hohennasen“
*
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